Heile Welt auf dem Land – und kein Lehrer will hin

Heile Welt auf dem Land – und kein Lehrer will hin

In Wutach-Ewattingen lernen Fünf- bis Zehnjährigen zusammen. Der Grund: Lehrermangel. Doch auch bei den Ärzten und Lebensmittelläden dünnt die Gemeinde aus. Ein Besuch auf dem Land.

Ist hier Tag der offenen Tür heute? Es sieht ganz danach aus. Kinder in den Klassenzimmern, Kinder auf den Gängen, Kinder im Computerraum, größere und kleinere Schüler, Gemurmel und Geschäftigkeit. Die einen lesen, andere schreiben oder malen, wieder andere reden miteinander. Und die große Pause ist erst in einer Stunde. Was Besuchern vorkommt wie eine Ferienfreizeit – das ist hier der Unterricht.


Ein ganz normaler Vormittag an der Grundschule Wutach. Die ist allerdings, wie man sieht, keine ganz normale Grundschule. Hier sucht man die Klassen 1 bis 4 vergebens, man findet nur drei "jahrgangsgemischte Familienklassen", die heißen A, B oder C. Und auf dem Stundenplan steht wie jeden Morgen nicht Deutsch oder Rechnen, sondern "AP". Das bedeutet Arbeitsplan. Jedes Kind hat seinen eigenen, je nach Alter, Wissen und Können. Denn an dieser Schule lernen sie alle gemeinsam, die Fünf-, die Sieben- und die Zehnjährigen. Wie früher an der Dorfschule.

Nur anders. Moderner. Individueller. Die Klassentüren stehen offen, nicht nur heute – immer. Das Mobiliar verteilt sich locker in den Räumen, hier ein hölzernes Bankkarree, da zwei, drei Stoffsäcke zum Fläzen, und dort drücken manche auch mal eine klassische Schulbank. Die Wände sind kreativ gepflastert mit Kunst, Fotos und Sinnsprüchen. Morgens vor neun Uhr, berichten Rahel (9) und Karla (10), "dürfen sogar die Kindergartenkinder mit reinschnuppern". Die beiden haben das früher, als sie klein waren, auch getan. Jetzt sind sie "die Großen" hier, helfen den Kleinen – und freuen sich aufs Gymnasium.

Nicht frontal, sondern mittendrin


Und die Lehrerinnen und Lehrer? Es gibt sie. Aber man bemerkt sie kaum auf den ersten Blick. Denn Doris Baumann und ihre Kolleginnen stehen nicht vorne an der Tafel mit der Kreide in der Hand und fordern Disziplin. Die eine sitzt mit Kindern im Karree und fragt ab, woran sie zuletzt gearbeitet haben in ihrem Arbeitsplan. Die andere, Stefanie Baumgärtner, hockt neben einem Jungen, der beim Rechnen nicht weiterkommt, und gibt Ratschläge.

Viel Freiheit, Experimentierfreude, zwischenmenschliches Feedback – was willst du mehr, Pädagogenherz? Könnte man denken. Und doch hatte diese Zeitung zu Jahresbeginn Anlass zu der Schlagzeile: "Wutach sucht händeringend Lehrer". Eine Planstelle war an Doris Baumanns Grundschule mit ihren 55 Kindern im Hauptort Ewattingen seit Längerem zu besetzen – aber trotz Ausschreibung fand und fand das Staatliche Schulamt des Kreises Waldshut lange keine Interessenten. Im Gemeinderat kochte der Unmut hoch, mehrfach stand Christian Mauch, der Bürgermeister, bei der Behörde auf der Matte – resigniert musste er feststellen: "Auch im Schulamt kann man keine Lehrer für Wutach schnitzen."

Was ist da los?


Warum will kein Lehrer nach Wutach? Aus Sicht verwöhnter Städter mag das hier die Pampa sein – aber Sibirien ist es ganz sicher nicht: Die schmucke 1.200-Einwohner-Gemeinde liegt in schöner Umgebung auf 730 Meter Höhe am Rand der Baar, nahe der berühmten, wildromantischen Schlucht, sie lockt Familien mit billigem Baugrund, hat allem Anschein nach ein funktionierendes Sozialleben – und hat diese Modellschule, zu der immer wieder lernbegierige Hospitanten kommen.

"Auch im Schulamt kann man keine Lehrer für Wutach schnitzen." Christian Mauch



Zudem: Was heißt hier wollen? Kann man das nicht anordnen? Ist es Politik und Verwaltung heute nicht mehr möglich, fragt mancher im Gemeinderat, Landesbeamte zum Dienst auf dem Land zu veranlassen – wenn nötig, per Abordnung? Schließlich gibt es einen Verfassungsauftrag, für "gleichwertige Lebensverhältnisse" in der Stadt und auf dem Land zu sorgen?

"Alles nicht so einfach", seufzt Markus Adler vom Regierungspräsidium in Freiburg, der obersten Schulbehörde Südbadens. Dort kennt man die Klagen der Bürgermeister nur allzu gut. "Je ländlicher, um so schwieriger ist es, und an Grundschulen ist es am schwierigsten", sagt Adler und klingt resigniert. "Sie können die Leute nicht zwingen." Auf dem Arbeitsmarkt sind Lehrer derzeit in der stärkeren Position. Es werden viele gebraucht, übrigens in Hochrhein-Nähe auch von der grenznahen Schweiz – in der man sehr gute Gehälter zahlt. "Die Leute", sagt Adler, "können sich’s aussuchen."

Schmackhaft mit Geld?


Aber wie steht es mit Anreizen? Christian Mauch kann dem Gedanken etwas abgewinnen. So wie manche Länder ihren Beamten Ballungsraumzulagen zahlen – auch in Baden-Württemberg gab es das einmal – solle man heute einmal über eine "Zulage Ländlicher Raum" nachdenken, findet Wutachs Bürgermeister. Der parteilose 52-Jährige amtiert seit 2007 in dem schmucken Rathaus mit den Staffelgiebeln und den holzgetäfelten Räumen. "Man muss schon kämpfen, ganz klar", umreißt er seinen Alltag.

Ganz frisch noch ist sein Kampf um eine Einkaufsmöglichkeit in Ewattingen. Zum Jahreswechsel hat das Traditionsgeschäft der Familie Burger den einzig verbliebenen Tante-Emma-Laden geschlossen. Investitionen in Kühltheken und bargeldlose Kassen lohnten sich für den 74 Jahre alten "Vivo-Max" nicht mehr, wie die Kunden ihn liebevoll nannten. Die Edeka-Planer, die Mauch kontaktiert hat, "haben unmissverständlich abgewunken". Jetzt ist er froh, dass es immerhin eine Kooperation mit der örtlichen Filiale der Raiffeisengenossenschaft gibt. Dort können die Ewattinger weiterhin einkaufen, wenn auch nur Haltbares und keine frischen Sachen.

Und vor Jahren gelang es der Gemeinde – mit Zuschüssen –, einen Allgemeinarzt aus Lenzkirch für den Betrieb einer Zweitpraxis in Ewattingen zu gewinnen. "So etwas ist Gold wert", sagt Mauch – dass Ältere, die nicht mehr so mobil sind, sich nicht wegen jeder Blutdruckkontrolle nach Bonndorf kutschieren lassen müssten.

Das Miteinander funktioniert


Mobilität ist überhaupt das Stichwort hier, gar nicht unbedingt Abwanderung. Wutach und seine Teilorte haben, wie Einheimische und sporadische Heimkehrer versichern, ein durchaus funktionierendes Gemeindeleben: Fasnet, Dorffeste, die Wirtschaften "Zur Burg" und "Hirschen". Und Vereine wie Bläserjugend, Chörchen und Männergesangverein proben nachmittags und abends so selbstverständlich im Schulhaus, dass es um die Nutzung der Räume zuletzt schon heikle Diskussionen gab.

Aber die Mobilität. Sie bedeutet, dass viele Familien heute mehrere Autos haben und wenigstens einer zur Arbeit pendelt, nach Donaueschingen, Villingen-Schwenningen, in die nahe Schweiz oder auch in das eine Stunde entfernte Freiburg. Unterwegs kann man kleiner oder größer einkaufen, Discounter und Großmärkte liegen an der Strecke, und in der Mittagspause oder nach Feierabend ist vielleicht auch ein Zahnarztbesuch drin. So entziehen auch diejenigen Bewohner, die sich auf dem Land wohlfühlen, heimischen Anbietern die Geschäftsgrundlage. Oft ohne es zu wollen – und nicht selten mit nagendem schlechten Gewissen.

Einer, der die Entwicklung früh kommen sah, war der ehemalige Ministerpräsident Lothar Späth (1937–2016). 1988 entdeckte der Christdemokrat, den sie "Cleverle" nannten, die Zukunftsaufgabe "Ländlicher Raum". Er rief Berater zusammen, veranstaltete Kongresse und Symposien und taufte seinen damaligen Landwirtschaftsminister und Parteifreund Gerhard Weiser, der das eher widerstrebend hinnahm, in einen "Minister für den Ländlichen Raum" um. So heißt das Agrarressort bis heute.

Die Mobilität und ihre Folgen


Damals standen noch der Strukturwandel der Landwirtschaft im Mittelpunkt und die Frage, wie man beim "Wachsen oder Weichen" der Betriebe Nebenerwerblern neue Einkommenschancen zeigen kann – auch, damit die Dörfer nicht verwaisen. Hofläden, Ferien auf dem Bauernhof, Geld für Kulturlandschaftspflege – solche Programme bekamen einen Schub. Doch vielleicht hat der visionäre Späth auch schon damals, vor dreißig Jahren, die Folgen geahnt, die die heutige Mobilität für den ländlichen Raum mit sich bringt.

So wie man die Kirche im Dorf lassen soll, gehört auch die Schule dorthin – das war Bekenntnis aller Landesregierungen und ist es immer noch, wenigstens verbal. "Wohnortnahe Grundschule" hieß das beim früheren Kultusminister Mayer-Vorfelder – um nicht Dorfschule zu sagen, die in vielen Dörfern ja nicht mehr zu retten war. Dass sich die weiterführenden Schulen auf die größeren Orte konzentrieren, das war nicht aufzuhalten. Aber die Grundschule am Ort, hat ein Wutacher Gemeinderat formuliert, ist eine "wichtige Lebensader". Und "überlebenswichtig" für diese Lebensader in Wutach war und ist über kurz oder lang ihr innovatives Konzept.

Das bestätigt der Mann, dem sich das Konzept verdankt und von dem noch viele hier voller Anerkennung sprechen, Klaus Elbers. Wir erreichen ihn am Telefon in Rosenfeld. Der heute 50-Jährige, der jetzt in dem Zollernalb-Städtchen eine Grund- und Werkrealschule leitet, war seit 1993 Lehrer in Wutach; es war seine erste Lehrerstelle nach dem Studium in Freiburg, später auch seine erste Schulleiterstelle.

Der Entwickler


Elbers, der 2015 wechselte, erzählt lebhaft von der Zeit, als er mit den Kollegen das Konzept der Jahrgangsmischung entwarf, von der Experimentierfreiheit, die das Schulamt gewährte, von den Debatten mit Eltern, die sich um die Leistung ihrer Sprösslinge sorgten und Noten vermissten. Die Rückmeldungen der weiterführenden Schulen aber, versichert Elbers, gaben Entwarnung: Die Wutacher Schüler seien genauso leistungsfähig wie andere, allerdings sozial fitter – auch wegen des Helfersystems zwischen Großen und Kleinen.

Vergleichsweise, sagt Elbers, kosteten kleine Schulen "eine Menge an Lehrerzeit und Lehrerstellen", aber er rät der Schulverwaltung, kleine Schulen, wo nur irgend möglich, zu erhalten. "Es wird dort eine hervorragende Arbeit geleistet, die eine große Schule so nicht leisten kann."

Und dann sagt der passionierte Dorfschullehrer und Familienvater noch etwas, das manchen Junglehrer in der Stadt ins Grübeln bringen könnte. "Als Lehrer ist man im Dorf noch angesehen. Und die Dorfkinder", ergänzt er mit der nötigen Portion Diplomatie, seien "einfach vom Handling ganz anders. Hier gibt es das noch, ein Stück heile Welt". Also, stadtversessene Junglehrer, so die verkappte Botschaft: Ihr ahnt ja nicht, was Ihr verpasst.

Die Schülerzahlen
Der Geburtenrückgang gefährdet ländliche Schulen stärker im Bestand als städtische. Vielerorts auf dem Land sinkt die Zahl der Schüler – bei stagnierender Einwohnerzahl. So hatte die Grundschule Zell im Wiesental laut Statistischem Landesamt im Schuljahr 2004/05 noch 293 Schüler, heute sind es 211. In St. Peter an der Grundschule waren es 122 Schüler, heute sind es 96. Und die hier porträtierte Grundschule Wutach besuchten nach Angaben des Rathauses vor 20 Jahren noch 80 Kinder, heute sind es 55.

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